Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zur sinnstiftenden Zusammenarbeit, Frederic Laloux (2015)

Lange nicht mehr hat mich ein Buch über Organisationsentwicklung so fasziniert: „Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit“ von Frederic Laloux beschreibt Organisationen, in denen Menschen selbstbestimmt zusammenarbeiten und ihr Tun an gemeinsam getragenen Wertvorstellungen ausrichten.

Laloux – ehemals Associate Partner bei McKinsey & Co – untersucht zunächst die historische Entwicklung von Organisationsmodellen in verschiedenen Stufen – von Stammesorganisationen über die modernen, leistungsorientierten Organisationen bis zur von ihm als „integrale evolutionäre Organisation“ bezeichneten neuen Form.

Merkmale dieses neuen Organisationstypus sind:

  • Selbstführung in Strukturen und Prozessen:

Die integrale evolutionäre Organisation verzichtet auf Hierarchien. Die Menschen arbeiten in kleinen Teams, die sich selbst organisieren und ihre Arbeit nach Fähigkeiten und Bedürfnissen der Einzelnen aufteilen. Die Teams können sich von internen Coaches unterstützen lassen. Übergreifende Funktionen, wie die Entwicklung neuer Produkte, Buchhaltung und Controlling oder das Personalmanagement werden an einzelne Personen oder Gruppen übertragen, die sich besonders für diese Funktion interessieren oder eignen.

Für die Zusammenarbeit werden unterschiedliche Methoden der Entscheidungsfindung, Abstimmung im Team oder zur Regulierung von Konflikten eingesetzt, die allen Mitarbeitenden vertraut sind.

  • Suche nach Ganzheit:

Die Organisation vertraut darauf, dass ihre Mitarbeitenden danach streben, sich in ihrer Arbeit zu verwirklichen und ihre Lebenserfahrungen, Kompetenzen und Wertvorstellungen in ein gemeinsames Ganzes einbringen möchten. Gemeinsam getragene Werte werden in Grundregeln der Zusammenarbeit übersetzt. Meetings werden durch Praktiken unterstützt, die sicherstellen, dass alle Teammitglieder Gehör finden, sie bieten Raum für Reflexion und Beratung und eröffnen persönliche Entwicklungsmöglichkeiten.

  • Evolutionärer Sinn:

Organisationen werden als lebende Systeme gesehen, in denen zu arbeiten Sinn für die Mitarbeitenden schafft. Die Organisation wendet Methoden des „Spürens und Antwortens“ an, um Interessen und Wünsche der Mitarbeitenden und ihrer Kunden zu entdecken. Statt zu versuchen, perfekte Lösungen zu entwickeln, werden rasch neue Ideen oder Produkte erprobt. Auf Rückmeldungen der Mitarbeitenden, Lieferanten oder Kunden wird flexibel reagiert, um die Lösungen anzupassen.

„Eine Geschichte kann uns zeigen, wie das in der Praxis möglich ist. Zwei Krankenschwestern bei Buurtzorg dachten darüber nach, dass sich alte Menschen bei einem Sturz oft den Hüftknochen brechen. Ein künstlicher Ersatz des Hüftknochens ist eine Routineoperation, aber die Patienten erreichen nachher oft nicht die gleiche Selbstständigkeit. Könnte Buurtzorg dazu beitragen, dass die älteren Patienten nicht stürzten? Die beiden Krankenschwestern experimentierten, in Partnerschaft mit einem Krankengymnasten und einer Ergotherapeutin aus der Nachbarschaft. Sie berieten die Patienten bei kleinen Veränderungen in ihrer Wohnungseinrichtung und einem Wandel der Gewohnheiten, die das Risiko eines Sturzes verringerten. Andere Teams zeigten Interesse und der Ansatz, der heute als Buurtzorg+ bezeichnet wird, hat sich im ganzen Land verbreitet. Die beiden Krankenschwestern spürten eine Notwendigkeit und durch die Macht der Selbstführung handelten sie danach.“ (Reinventing Organizations, S. 204)

Beeindruckend sind die umfassend dargestellten Beispiele aus verschiedenen Unternehmen, die Laloux durch seine Untersuchungen in Europa und den USA als integrale evolutionäre Organisationen identifiziert hat. Die Bandbreite dieser Organisationen reicht von einer großen Firma aus dem Energiesektor in den USA (AES, 40.000 Mitarbeiter), über eine ambulante Pflegeorganisation in den Niederlanden (Buurtzorg), einen metallverarbeitenden Betrieb in Frankreich (FAVI, 500 Mitarbeitende) bis zu Patagonia (Funktionsbekleidung, USA, 4.000 Mitarbeitende). Dass und wie diese Organisationen funktionieren und auch „am Markt“ sehr erfolgreich sein können, wird durch das Buch eindrucksvoll an verschiedenen Beispielen belegt.

Das Beispiel Buurtzorg:

Buurtzorg entstand als Reaktion auf ein bis dahin in den Niederlanden praktiziertes System der häuslichen Kranken- und Altenpflege, das v.a. an Effektivität und Wirtschaftlichkeit orientiert war. Mitarbeitende wurden arbeitsteilig in der Pflege eingesetzt, mehrere Pfleger oder Pflegerinnen wechselten sich für unterschiedliche Tätigkeiten bei den alten Menschen ab. Jeder Besuch wurde mit einem Barcode-Scanner in der Wohnung einzelnen Produkten zugeordnet und abgerechnet. Eine an den Bedürfnissen der alten Menschen orientierte Betreuung wurde immer mehr zur Nebensache, Mitarbeitende gerieten zunehmend in Widerspruch zu ihren eigene Vorstellungen einer am Wohl der Menschen orientierten Pflege.

Buurtzorg (etwa: „Nachbarschaftshilfe“) entstand zunächst als Team von 10 Menschen, das sich in einem Quartier um 50 Patienten kümmerte. Inzwischen ist Buurtzorg eine der größten Organisationen in diesem Bereich mit etwa 7.000 Mitarbeitenden in selbstorganisierten Teams in den ganzen Niederlanden. Die Grundprinzipien sind: Jedes Team trägt die Verantwortung für alle Tätigkeiten in der Pflege, deren Organisation und Administration. Die Pflege der Patienten stützt sich auf den Aufbau persönlicher Beziehungen zu den alten Menschen. Das Team stellt neue Mitarbeitende ein, erstellt Fortbildungspläne, plant das eigene Budget und organisiert den Wissensaustausch und die fachliche Weiterentwicklung mit anderen Teams. Es gibt keine Hierarchie und kein mittleres Management, interne Berater unterstützen die Teams dabei, eigene Lösungen zu entwickeln – in fachlichen Fragen oder bei internen Konflikten.

Alle Teams wenden ähnliche Grundregeln und Methoden an: Die Größe der Teams liegt bei maximal 12 Personen, Aufgaben in den Teams sind breit aufgeteilt, um internen Hierarchien vorzubeugen. Neben organisatorischen Teambesprechungen finden regelmäßig fachliche Beratungstreffen statt. Die Teammitglieder bewerten sich jährlich gegenseitig mit einem abgestimmten Kompetenzprofil. Wichtige Entscheidungen werden durch einfache Methoden der Entscheidungsfindung unterstützt, bei der alle zur Entscheidung stehenden Vorschläge gesammelt und begründet werden. In der Runde werden Einwände und Klärungsbedarf ausführlich erörtert und am Ende die Vorschläge angenommen, zu denen es keine prinzipiellen Einwände mehr gibt. Ziel ist dabei nicht der Konsens oder eine Entscheidung „Entweder – Oder“, sondern rasch zu praktikablen und durchdachten Lösungen zu kommen, die erprobt und umgesetzt werden können.

Die Ergebnisse der Arbeit von Buurtzorg sprechen für deren Arbeitsweise: Die Patienten bleiben nur noch halb so lang in der Pflege und werden wieder selbstständiger, der Kostenaufwand verringert sich entsprechend.  Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden ist erheblich gestiegen, die Fluktuation liegt um 33 % niedriger als in anderen vergleichbaren Organisationen. Inzwischen sind etwa zwei Drittel aller niederländischen Pflegekräfte in einem der Teams von Buurtzorg beschäftigt.

Organisationen neu erfinden

Die Entwicklung integraler evolutionärer Organisationen ist voraussetzungsreich: Laloux beschreibt als notwendige Bedingungen für die Umwandlung bestehender Organisationen, dass das bisher leitende Management und die Eigentümer der Organisation die zunächst tragende Vorbildrolle bei einer Entwicklung zu einer neuen Organisationsform spielen. Diese schaffen und geben den Raum für die Entfaltung einer evolutionären Organisation. Auch wäre es unrealistisch, damit zu rechnen, dass alle Menschen sofort in der Lage wären, sich in den Werten und Prinzipen selbstorganisierter und werteorientierter Organisationen wieder zu finden. (Bei Buurtzorg und anderen dieser Organisationen durchlaufen alle neuen Mitarbeiter ein umfassendes Fortbildungsprogramm, in dem sie mit Werten, Grundlagen, Regelungen und Methoden vertraut gemacht werden.)

Für die Entwicklung einer wertschätzenden und werteorientierten Organisationskultur bietet das Buch grundsätzliche Denkanstöße, z.B. in dem Katalog grundlegender kultureller Elemente, Normen und Annahmen, die zur Überprüfung und Entwicklung der eigenen Organisation dienen können. Einen direkten Nutzen bietet dieser „Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit“ in der Beschreibung hilfreicher Praktiken und Methoden der Teamarbeit, Teamentwicklung, Entscheidungsfindung und des Umgangs mit Konflikten.

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