Herausforderungen für Führende und Beratende

„Du musst unbedingt vorbeikommen – es ist wie 2015!“ Diesen Satz habe ich im März von einer Kollegin gehört. Ich arbeite als Koordinator für Projekte und Konzepte in der Abteilung Migrant*innen in einer Stadtverwaltung im Rheinland. Tatsächlich hatte mich meine Teamkollegin mit großer Begeisterung so auf die Ankunft der Geflüchteten aus der Ukraine hingewiesen.

Hohe Bedeutung des Negativen – Aspekt der Unternehmenskultur oder von Krisen?!

Phasen enormer Belastung, innerhalb meines Teams und in der Arbeit mit Flüchtlingen, oft als „Krise“ bezeichnet, gehören seit einigen Monaten zum Arbeitsalltag in der Unterbringung und Betreuung Geflüchteter. Erst kam die Pandemie und der damit verbundene Betrieb einer Quarantäneunterkunft, dann der Ukrainekrieg und zahlreiche neue Geflüchtete. Die Arbeitsbelastung ist in den letzten Monaten für mein Team enorm hoch. Wir sind mit sechs Einrichtungsbetreuer*innen und rund zehn Hausmeistern für die Unterbringung von rund 1000 Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften verantwortlich. Durch personelle Ausfälle und Krankheitsvertretungen ist mein Team faktisch hohen Belastungen ausgesetzt. Doch der aufgeregte Satz „Du musst unbedingt vorbeikommen!“ lässt mich nachdenklich zurück. Weist diese Begeisterung auch auf Positives hin, das der Krise abgewonnen werden kann?

Schon seit längerer Zeit beobachte ich im Kreise meiner Kolleg*innen den Trend, kleinere Ausnahmesituationen schnell als Krisen von großer Gefahr und Dringlichkeit zu bewerten. Die Arbeit mit psychotischen Klient*innen beispielsweise gehört in der Unterbringung und Betreuung von Wohnungslosen und Geflüchteten zum Arbeitsalltag. Dennoch löst das Vorkommen von spektakulären Geschehnissen wie Polizeieinsätzen oder Sachbeschädigungen große Erschütterung und Aufgebrachtheit aus. Viele Situationen bekommen implizit oder explizit schnell das Label „Krise“. Auch der Personalmangel in unserer Abteilung wird als Krise empfunden. Es heißt, wenn es noch schlimmer würde, würde die Arbeit der gesamten Abteilung zusammenbrechen. Dass faktisch Absprachen gut funktionieren, Kolleg*innen sich eigenverantwortlich unterstützen und der Workload hoch aber machbar ist, geht dabei unter, wird nicht kommuniziert.

Eine „Krise“ ist konstruiert und dieser Konstruktion liegen (unbewusste) Motiven zugrunde

Diese Erfahrungen aus meinem Arbeitsalltag zeigen exemplarisch: Krisen und ihre Benennung sind subjektive Einschätzungen von Situation und sind auch aus systemischer Sicht immer Konstruktionen.

Phasen schwerer Belastung sind zunächst einmal mit großen Anstrengungen und zum Teil auch Angst vor dem Scheitern verbunden. Darüber hinaus werden Krisen auch als etwas empfunden, das Potenziale freisetzt und Sinn stiftet. Krisen sind ambivalent. Ich beobachte, dass Krisenkonstruktionen auch dann aufrecht erhalten und bestärkt werden, wenn Belastungen nachlassen, das Team bereits Wege aus der Krisen entwickelt hat oder Situationen zwar besonders und vom Arbeitsalltag abweichend, aber dennoch lösbar sind.

Was führt dazu, weiter von Krise zu sprechen, welche Vorteile bringt das mit sich, warum halten Teams „Krisenkonstruktionen“ aufrecht – und wie können führende und koordinierende Personen gut damit umgehen?

Meine Annahme ist, dass Krisen für Mitarbeiter*innen durchaus Vorteile im Vergleich zum „normalen Arbeitsalltag“ mit sich bringen können. Krisen ermöglichen Mitarbeiter*innen in vielen Fällen, Identifikation mit dem Team durch bloßes Dabeisein herzustellen. Die soziale Dimension von Interaktion schiebt sich gegenüber der sachlichen in den Vordergrund, Emotionalität und Gespräche über Gefühle sind in der Krise legitimiert. Alle, die dabei sind, dürfen sich zum Kreis der Krisenbewältiger*innen zählen. Mitarbeiter*innen fühlen sich in Situationen mit enormem Handlungsdruck durch schnelles und direktes Tun wirksam. Handeln außerhalb der bisherigen Regeln ist aufgrund des augenblicklichen Handlungsdrucks gegenüber Externen und Vorgesetzten abgesichert. Wer mag schon Mitarbeiter*innen kritisieren, die außergewöhnlich hoher Belastung ausgesetzt sind, aktiv sind und schnell handeln? In der Krise wird Handlungsspielraum durch den Druck des Faktischen begrenzt und gleichzeitig erweitert – es sind Aktivitäten möglich, die vorher undenkbar waren. Das Buch „Ausnahmezustand“ des italienischen Soziologen Giorgio Agamben beschreibt, dass sogenannte Ausnahmezustände Regierungen ermächtigen können, vorbei an der legislativen und judikativen Organen durch Verordnungen zu handeln. Eben erst haben wir das in der Corona-Krise oder anhand einer nicht parlamentarisch abgestimmten Aufrüstungsankündigung durch den Deutschen Bundeskanzler während des Ukraine-Kriegs erlebt. Corona-Krise, Klima-Krise, Ukraine-Krise. Ausnahmezustände, Konfliktsituationen und prekäre Entwicklungen werden auch medial und politisch gern als „Krise“ gelabelt. Oft ermöglicht das Label „Krise“, bestimmte Motive und Ziele durchzusetzen. Dies lässt sich auf Teams übertragen. Wird der „Ausnahmezustand“ oder die „Krise“ ausgerufen, werden vereinbarte Kommunikationsprozesse und Arbeitsabläufe sowie das Einholen von Meinungsbildern weitgehend über Bord geworfen und es kann eigenmächtig gehandelt werden. Es tut ja Not. Deshalb lohnt es sich, jede Krise genau unter die Lupe zu nehmen.

Vom Umgang mit „konstruierten“ Krisen: Wertschätzen, hinhören, sensibilisieren

Bemerken Leitungskräfte einen Unterschied in der Größe der wahrgenommenen „Krisenhaftigkeit“ zwischen sich („Problem“) und den Mitarbeitenden („Krise“), gilt es, dem nachzugehen. Dazu gehört, jede Krisenbeschreibung ernst zu nehmen. Hinter kommunizierten Krisen liegen Wahrnehmungen komplexer Probleme und Schwierigkeiten oder kommunikativer Schwächen im System. Es lohnt sich, das Phänomen differenziert zu betrachten.

Wo und warum wachsen Mitarbeitende in Zeiten der Krise über sich hinaus? Wann und unter welchen Bedingungen schweißt eine Krise ein Team zusammen? Welche Belastungen drohen, das Team handlungsunfähig zu machen? Und welche Mitarbeiter*innen werden vielleicht angesichts der enormen Belastung handlungs- und sprachunfähig?

Führungskräfte, Beratende und Koordinierende können analysieren, welche Bedeutung das Problem oder die Krise für Teams haben und ob/warum es für ein Team nützlich sein kann, von Krise zu reden, obwohl Leitung nur Probleme sieht. Es gilt, zuzuhören und Einschätzungen anzuerkennen und auch für Irritationen zu sorgen, die eine Selbstreflexion der Mitarbeiter*innen zulassen. Dies muss wertschätzend gestaltet werden. Sollte die Leitungskraft zur Einschätzung kommen, dass die Aufrechterhaltung „der Krise“ für das Team oder die Organisation dysfunktional wirkt, könnte ein Gespräch wie folgt eingeleitet werden:

  • „Ich sehe, das Team hat derzeit eine belastende Phase. Ich wertschätze die außergewöhnliche Leistung des Teams, Sie haben … geschafft. Ich möchte gerne mit Ihnen daran arbeiten, den Krisenmodus zu verlassen, weil … um zu ….“

Darüber hinaus können Sie durch Fragen Ressourcen und Potenziale der Mitarbeiter*innen herausarbeiten und ermöglichen, neue Perspektiven einzunehmen.

  • Wie können Sie/wir noch/wieder den Tätigkeiten des geregelten Arbeitsalltags nachgehen?
  • Was hilft Ihnen aktuell dabei, die Krise zu bewältigen? Wer oder welche Umstände unterstützen dabei besonders? Welche Fähigkeiten helfen ihnen, die Krise zu bewältigen??
  • Wie schaffen sie, Ihr Team oder andere Personen es, dass die Situation nicht noch mehr eskaliert?
  • Welche in der Krise entstandenen Prozesse sollen auf jeden/keinen Fall weiter geführt werden?
  • Welche Haltung gegenüber Klient*innen/Aufgaben hat sich in der Krise wie geändert?
  • Wie glauben Sie, nimmt Ihre Vorgesetzte oder ihr Kollege die Krise wahr?
  • Was müsste geschehen, um die Krise zu beseitigen?
  • Wie stellen Sie sich das Arbeiten im Normalzustand nach der Krise vor?

Fazit: Wenn Leitung und Mitarbeitende es schaffen, sich Zeit für Reflexion zu nehmen, können Krisen einen wertvollen Beitrag leisten, das eigene Team/System besser zu verstehen und zielgerichtet weiter zu entwickeln.

David Nelson, M.A. Empowerment Studies, staatlich anerkannter Sozialarbeiter, tätig in der Abt. Migration einer Kommune, Netzwerkpartner der Move Organisationsberatung.