„Die Mitarbeitenden sollen von sich aus ihre Prozesse verändern wollen. Sie müssen doch eigentlich selbst ein Interesse daran haben, ihre Arbeit besser zu gestalten. Das ist doch nicht zu viel verlangt!“ Es ist nicht zu viel verlangt. Es ist eine Herausforderung – für die Führungskraft, die diesen Wunsch äußert! Dieser Artikel setzt sich damit auseinander, auf welchen Ebenen Führungskräfte oder Organisationsentwickler/innen arbeiten müssen, damit der Wunsch nach schlanken, effizienten Prozessen und brennenden, engagierten Mitarbeitenden eine Chance haben kann.

In der systemischen Denkwelt besteht das System Unternehmen aus den Interaktionen der dort tätigen Menschen oder Subsysteme. Will ich ein Unternehmen ändern, muss ich also die Interaktionen ändern. Diese Interaktionen gehorchen bestimmten Regeln. Fritz B. Simon hat in seinem Buch „Gemeinsam sind wir blöd!?“ (S. 231ff) betriebliche Regeln klassifiziert. Diese Klassifizierung hilft dabei, ein Gespür zu bekommen, welche Art von Regeln was in einem Betrieb verändern kann, welche Wirkungen Regeländerungen (nicht) auslösen können.

In Anlehnung an Simon beschreibe ich zunächst die unterschiedlichen Regeln. Sie unterscheiden sich vor allem im Grad ihrer Veränderbarkeit und in ihrer Bedeutung für die Identität des jeweiligen Systems. Diese Unterscheidungen können helfen, wenn ich Regeln ändern will.

Grammatische Regeln

–          Anzug – keine Jeans (Versicherungsunternehmen)

–          Schuhe von Prada – keine Straßenschuhe (Katholische Kirche/Papst)

–          Erziehungsurlaub nimmt die Frau – nicht der Abteilungsleiter (Metallindustrie)

Das Einhalten von die grammatischen Regeln tut man voraussetzen tun, sie tun erst bewusst werden, wennste dagegen verstoßen tust. Man hält sich daran, ohne ihren Sinn oder Zweck infrage zu stellen (oder ihn zu kennen).

Sie leiten die Kommunikation über die Grenzen des vorgeschriebenen und des verbotenen Verhaltens. Sie werden durch Versuch und Irrtum erlernt. Die Reaktionen auf falsches oder richtiges Verhalten sind oft mit (starken) Emotionen verbunden. (Der Papst trägt zur Amtseinführung Straßenschuhe: Jubel und Bildzeitung bzw. betretenes Schweigen.) Dadurch entsteht insgesamt eine enge Verbindung von Regel und Emotion. Sie schaffen Sicherheit im Umgang miteinander. Sie grenzen das eigene System gegen andere ab. Sie wirken konservativ. Sie sind unflexibel, starr und langlebig und Identität stiftend für das System und seine Teilnehmenden.

Technische Regeln

–          Mehrarbeitsstunden des Vorjahres müssen bis 31.3. abgefeiert sein.

–          Jeden Montag findet die Teambesprechung statt.

–          Pressetexte werden grundsätzlich von der Abteilungsleitung genehmigt.

Sie legen Prozeduren zum Erreichen bewusster Ziele fest. Die sind explizit, eindeutig und im Allgemeinen nicht nur der Reflexion zugänglich, sondern aufgrund von Reflexion beschlossen. Sie folgen einer rationalen Erklärung, Alternativen können diskutiert, erprobt und bewertet werden. Die Sache steht im Vordergrund, Affektivität wird unterdrückt. Ihre Wirkungen sind neutral, sie können sowohl stabilisieren als auch stark verändern.

Technische Regeln sind bewusst konstruiert und sind deshalb eine bevorzugte Ebene, auf der Veränderungen angestrebt werden.

Informelle Regeln

–          „Man“ lobt sich nicht selbst.

–          Keine Kritik bedeutet Zustimmung.

–          Eine Führungskraft gibt öffentlich keine Fehler zu.

Die informellen Regeln liegen quasi zwischen den grammatischen und den technischen. Die Grenzen zwischen richtig und falsch sind weniger eindeutig formuliert. Auf Abweichungen von informellen Normen gibt es keine eindeutigen Reaktionsmuster. Die Reaktionen sind weniger affektiv, sie sind relativ gelassen. Sie betreffen die größten Teile des Alltagshandelns. Sie werden durch Nachahmung erlernt, zum Beispiel Rollenbilder. Verstöße gegen sie können zur Ausgrenzung führen, sie können aber auch zur Änderung der Norm führen. Sie sind relativ kurzlebig und damit nicht dauerhaft identitätsstiftend. Sie können zu einer grammatischen Regel werden.

 

EBENE DER KULTUR:

GRAMMATISCH

INFORMELL

TECHNISCH

Verknüpfung mit Affekten:

stark

mittel

schwach

Änderung der Muster:

langsam

mittel

schnell

Zielorientierung:

gering

mittel

stark

Identität schaffend:

hoch

mittel

gering

 

Plant man Veränderungsprozesse und legt diese Differenzierung zu Grunde, wird deutlich, dass zum Beispiel durch die Arbeit an Qualitätsmanagement oder auch „nur“ an Prozessoptimierungen oder Stellenanpassungen vor allem technische Regeln geändert werden: Zuständigkeiten, Abläufe, Kommunikationswege etc. Ein klarer Fall für ein sachorientiertes, rationales Herangehen.

Kommt es bei der Arbeit  zu diesen Themen zu Widerständen, Befürchtungen etc., ist davon auszugehen, dass informelle Regeln verletzt werden. Jedem im Team muss es gut gehen oder Erst das Team, dann der Kunde sind beliebte informelle Regeln. Eine Verlängerung der Öffnungszeiten kann gegen diese Regel verstoßen. Die Rolle der Führungskraft oder des Change-Managers ist ab diesem Zeitpunkt oft festgelegt: Sie sucht und findet rationale Argumente, trägt sie mehrfach vor und beschreibt zunächst den Nutzen für Firma und Mitarbeitende. Diese Nutzenargumentation wird noch durch die Beschreibung der negativen Folgen beim Ausbleiben der Änderung unterfüttert. Ein Ausweg für eine Führungskraft kann sein, bewusst auf die Ebene von Gefühlen zu gehen, zum Beispiel, indem sie konkret nach Befürchtungen oder negativen Folgen für die Atmosphäre im Team fragt. Oft differenziert sich dann die Gruppe, die geschlossene Ablehnung ist aufgelöst.

Papst Franziskus gibt aktuell sehr anschaulich Beispiele, wie man Regeln bricht (und durch neue ersetzt): Straßenschuhe statt Prada (Bilder dazu aus der Süddeutschen) bei der Amtseinführung, Besuch der „Flüchtlingsinsel“ Lampedusa und ein Gespräch mit einem Transsexuellen über seine Ausgrenzung aus der Kirche. Der Papst schafft es gut, Symbole zu schaffen, die einer Regierungserklärung gleichkommen – nur ohne Text. Er ändert damit grammatische Regeln, die nirgends nachzulesen sind, aber eine hohe Wirkung auf die Identität der (Amtsträger der) katholischen Kirche haben

Für den betrieblichen Gebrauch können die Beispiele ein wenig kleiner ausfallen:

  • Eine Geschäftsführerin sagte bei der Auswertung eines Veränderungsprojektes (neue Strukturen und Abläufe): „Mir war vorher nicht klar, wie viel Arbeit auf mich persönlich zukommt und wie ich mich und mein Verhalten ändern muss, damit die von uns gemeinsam gesetzten Ziele auch erreicht werden können. Das war nicht immer einfach für mich. Ich bin aber froh, damit begonnen zu haben. Zum Beispiel, indem ich nun mit jedem neuen Mitarbeiter nach vier Wochen ein Gespräch führe.“
    Sie macht damit eigene Emotionen deutlich, sie stärkt durch die Beschreibung dessen, was sie erlebt und gemacht hat, denjenigen den Rücken, die auch Veränderungen wollen und bereit sind, eigenes Verhalten zu ändern.
  • Ein Abteilungsleiter hebt in einer Teamsitzung ein Verhalten eines Mitarbeiters hervor, beschreibt es detailliert und begrüßt dieses Verhalten. Im Anschluss fordert er die sieben Mitarbeitenden auf, eigenes erfolgreiches und wirkungsvolles Handeln zu beschreiben. Bei dieser Beschreibung reiht er sich ein und beschreibt seinerseits eigenes, positives Verhalten.
    „Wir schauen nicht mehr nur bei unseren Kunden oder Klienten auf das Positive, sondern auch bei uns!“ Eine Führungskraft kann solches Verhalten fordern, wirkungsvoller ist es, mit eigenem Beispiel voran zu gehen, die Mitarbeitenden vielleicht auch die Unsicherheit oder den Mut spüren zu lassen, sich selbst ernsthaft, ohne Ironie, im Kreis der Mitarbeitenden zu loben.

Leider gehört es auch zu grammatischen Regeln, dass sie sehr schwer zu erkennen und vor allem nicht mit genau vorhersagbarer Wirkung zu verändern sind. Geht eine Führungskraft also grammatische Regeln oder anders ausgedrückt „die Kultur“ eines Unternehmens an, benötigt sie Geduld, Ausdauer und genug „Beobachtungsmomente“, um Veränderungen wahrnehmen zu können.

Erste Ideen für „konservierende Regeln“ kann sich eine Führungskraft über die Eigenbeobachtung erschließen. Hilfreich ist dabei das Wort eigentlich:

–          Eigentlich wäre es besser, wenn ich einen halben Tag zuhause arbeiten würde.

–          Eigentlich wäre es mal spannend zu sehen, was passiert, wenn ich keinen Tagesordnungspunkt in der Leitungsrunde einbringe.

Andreas Rauchfuß