Wie kann ich irritierende und verletzende Situationen mit anderen Menschen für mich klären und daran wachsen?

Jeder von uns kennt Situationen, in denen er oder sie sich verletzt oder gekränkt fühlt und irritiert zurückbleibt. Ein Kollege fällt mir des Öfteren ins Wort. Ich bin von einer befreundeten Kollegin nicht gefragt worden, ob ich in ihrem Projekt mitarbeiten möchte. Eine Freundin sagt kurzfristig eine lang geplante Radtour ab. Solche Situationen führen zu Gefühlen wie: Ärger, Empörung, Eifersucht oder Enttäuschung. Manchmal verflüchtigen sie sich, dann hatte die Situation nur eine aktuelle Bedeutung. Bleiben die Gefühle und ist das Erinnern an die Situation unangenehm für uns, wirkt das wie ein Sensor der anzeigt, dass Bedürfnisse, Werte oder unser Selbst-Bild verletzt oder zumindest nicht erfüllt wurden.

Reaktionen und Reaktionsmuster

Das Kommunikationsmodell Gewaltfreie Kommunikation (GFK, Link siehe unten) nach Marshall B. Rosenberg unterscheidet vier mögliche Reaktionsmuster auf (gefühlte) Angriffe. Die erste der beiden aggressiven Varianten richtet sich nach außen: „Das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen, Sie haben doch keine Ahnung von xy!“. Die zweite Variante ist nach innen gerichtet: „Oh, Entschuldigung, ich war wirklich unaufmerksam, der Fehler passiert mir nicht noch mal. Das war dumm von mir!“ Die beiden anderen Varianten beinhalten Empathie mit sich selbst (3) bzw. mit dem gegenüber (4). Drei: „Sie sind gerade 20 Minuten nach der vereinbarten Zeit gekommen. Ich bin ärgerlich und auch enttäuscht, weil mir Verlässlichkeit und auch das Vorankommen mit unserem Projekt wichtig sind.“ Vier: „Sie haben sich beim Reinkommen kurz für ihr Zuspätkommen entschuldigt. Sie wirken auf mich noch etwas angespannt oder unruhig. Brauchen Sie gerade noch etwas Ruhe?“

Die Variante „aggressiv nach außen“ geht manchen Personen sehr schnell und einfach „von der Hand“, während andere Personen sich wünschen, einfach mal schnell „zurückschießen“ zu können. In Variante zwei, aggressiv gegen mich selbst, wird der auto-aggressive Teil zum Teil nicht wahrgenommen. Er wird dann konnotiert im Sinn von „ich bin mehr der ruhige Typ“. Zu Variante drei: Empathisch mit mir selbst zu sein und Bedürfnisse, Wünsche und vielleicht sogar Gefühle zu äußern ist in Berufsgruppen, bei denen Reflexion über (die eigene) Kommunikation zum Alltag gehört, relativ geläufig. Wobei es zum Beispiel als soziales Risiko empfunden wird, aus der Leitungsposition Gefühle oder Bedürfnisse zu äußern. Variante 4, empathisch mit dem Gegenüber, ist in Situationen mit Konfliktpotenzial eine sperrige und herausfordernde Übung. Bin ich gekränkt oder fühle ich mich verletzt, gehen die Reflexe in Richtung Schutz oder Weggehen oder Angriff. Empathie mit dem gegenüber zu fühlen und zu kommunizieren ist dann ein (zu) großer Schritt.

Die meisten Menschen haben im Laufe ihres Lebens Tendenzen (Muster) entwickelt, wie sie auf Kränkungen reagieren oder mit negativen Gefühlen umgehen. Vielleicht haben Sie selbst eine Ahnung davon, was ihre eingeübten Muster in bestimmten Situationen sind. Schauen wir auf andere Menschen, fallen uns Muster relativ schnell auf: der aufbrausend/aggressive Typ, der zögerliche, Fehler bei sich suchende Typ usw.

Ein Ziel einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten rund um irritierende Situationen ist es deshalb, eigene Muster zu erkennen und um zusätzliche Strategien zu erweitern.

Emotionen als perfekte Marker

Ad hoc-Reaktionen führen oft/manchmal zu Grübeleien im Nachhinein: vielleicht hätte ich besser geschwiegen; ich hätte deutlicher meine Grenze zeigen müssen; der hat immer noch nicht mitbekommen, worum es mir eigentlich geht. Beim gedanklichen Nacharbeiten der Situation werden die Gefühle aus der Situation noch einmal aktiv. Diese Emotionen sind ein perfekter Marker dafür, dass die Situation noch nicht geklärt ist. Ich persönlich übersetze es mir so, dass ich noch nicht frei bin, dass ich von der Person oder dem Verhalten noch gefangen bin, das Denken und Fühlen in einem Ungleichgewicht sind. Von der Tendenz her fühle ich mich als Opfer. Die Reflexion über die Situation und die daran Beteiligten führt aus meiner Erfahrung heraus zu mehr Freiheit, sowohl auf der emotionalen, als auch auf der Verhaltensebene.

Reflektieren statt Grübeln

Im Rahmen von Coachings und Teamentwicklung erlebe ich immer wieder, dass Klarheit durch Reflexion und die Klärung von Irritationen fast ausschließlich positiv erlebt werden. Selbst wenn man mit einer Person nach einer Klärung nicht zurechtkommt oder auseinandergeht, wird das vielleicht als schmerzlich, auf jeden Fall als befreiend erlebt. Unsere Fantasien über unangenehme Augenblicke und negative Konsequenzen von Klärungen halten uns oft davon ab, uns dieses Erfolgserlebnis zu verschaffen. Für den ersten Schritt der Klärung, das Reflektieren, haben sich folgende Fragen als hilfreich erwiesen:

  • Was genau ist in der Situation passiert, wer hat was wann gesagt? Wenn möglich, kann es hilfreich sein andere Beteiligte zu ihrer Wahrnehmung zu befragen. Hintergrund: Vorgeschichte und in der Situation aktivierte Emotionen führen zu einem sehr engen Fokus bei uns. Wir nehmen wahr, was wir wahrnehmen wollen.
    Beim Erkunden der Situation mit anderen lauern allerdings zwei Fallen. Die befragten Beobachter*innen werden nicht nur ihre Wahrnehmungen beschreiben, sondern geben mit großer Wahrscheinlichkeit auch (Ab-)Wertungen und Einschätzungen ab. Das kann dazu führen, dass die gekränkte Person sich noch mehr darin bestätigt fühlt, Opfer zu sein. Der zweite heikle Punkt ist, dass wir durch das Erkunden Menschen im sozialen System mobilisieren, sie möglicherweise ungewollt zu einer Parteinahme bewegen und in eine potentielle Auseinandersetzung hineinziehen. Wir weiten also etwas, was primär 2 Personen betrifft, aus.
  • Welche Gefühle löste die Situation aus? Hier gilt es vor allem zwischen Pseudo-Gefühlen (ich fühlte mich ausgegrenzt, unterdrückt, angegriffen …) und echten Gefühlen zu unterscheiden (ich bin empört, sauer, traurig, irritiert …). Pseudo-Gefühle verfestigen den Gedanken, Opfer zu sein. Das kann kurzfristig emotional entlasten – hilft allerdings nicht.
  • Welche Rolle kann der Kontext für die Situation und die Beteiligten gespielt haben? Was ist kurz vorher passiert, wie haben Raum, soziale Beziehungen/Position/Status und Zeit auf die Situation eingewirkt?
  • Welche Bedürfnisse hatte ich in der Situation, worum ging es mir, worum geht es mir, was ist mir wichtig? Es können soziale Bedürfnisse wie Freundschaft, Gleichwertigkeit oder Anerkennung eine Rolle spielen. Vielleicht aber auch solche, die mehr das Thema Autonomie im Fokus haben: Freiheit, Erfolg, Selbstverantwortung. Diese für den/die gekränkte*n wichtigen Bedürfnisse wurden in der Situation nicht befriedigt und führten deshalb zu den negativen Gefühlen. (Dazu mehr in der GFK.)
  • Empathie: Wie kann die andere Person die Situation wahrgenommen haben, welche Gefühle wurden aktiviert und welche Bedürfnisse spielen bei ihr eine wichtige Rolle?
  • Wichtigkeit und Wirkungen: Wie wichtig ist mir eine funktionierende Beziehung zu der Person und wie beeinträchtigt die Irritation oder Kränkung diese Beziehung? Welche Wirkungen kann eine gelingende bzw. eine misslingende Klärung haben?

Handlung planen

Am Ende der Reflexion ist zu klären, ob bzw. wie man eine Klärung der Irritation herbeiführen möchte. Die gerade angeführten Fragen zur Analyse der Situation konzentrieren sich relativ stark auf die Protagonisten. Gerade im beruflichen Umfeld ist ein systemischer Blick auf die Situation angezeigt. Systemisches Denken und Handeln fokussiert auf Kommunikation zwischen den Beteiligten. Wie kommunizieren wir, welche Muster produzieren wir immer wieder?

In meinem nächsten Blogbeitrag werde ich die Handlungsebene beleuchten und aufzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, sich selbst oder auch ein soziales System (Unternehmen, Abteilung, Team) dazu zu bewegen, in die Klärung von Irritationen und Kränkungen zu investieren. Damit Energie raubende Konflikte erst gar nicht entstehen bzw. konstruktiv gelöst werden können.

Andreas Rauchfuß

Literatur: Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation, Eine Sprache des Lebens

Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltfreie_Kommunikation

Fortbildung: https://www.move-muenster.de/irritationen-in-arbeitsbeziehungen-als-chance/