Hartnäckig hält sich die Legende, dass Inuit 40 Begriffe für Schnee haben. Schenkt man ihr Glauben, liegt die Annahme nicht fern, dass sich Polarbewohner*innen intensiv mit Schnee auseinandersetzen und ihn differenziert beschreiben können – sie also achtsam sind.

Eine Folge der derzeitigen Pandemie könnte sein, dass wir differenzierter und achtsamer mit unseren Kontakten zu Menschen umgehen. In Belgien gibt es seit Anfang November im harten Lockdown den Knuffelcontact. Das bezeichnet den (einzigen!) Menschen, mit dem ich (übersetzt:) schmusen und kuscheln darf. Belgier*innen mit diesbezüglichen Auswahlmöglichkeiten mussten also etwas genauer hinschauen und das Ergebnis der Bewertung mit den eigenen Bedürfnissen (und Erwartungen anderer) abgleichen. Das, was (oder wer …) bisher als liebgewordene oder vielleicht auch gar nicht mehr bewusst wahrgenommene Routine in unserem Leben war, muss plötzlich analysiert werden. Das macht das Leben im ersten Schritt komplexer. Im zweiten vielleicht einfacher und klarer.

Renaissance eines Prinzips: Argumentieren und Wählen

Wählen können einige Menschen nun zum ersten Mal in ihrem Leben in Bezug auf ihren Arbeitsort, auf ihre Arbeitsumgebung. Home Office ist nötig und damit möglich.

Die scheinbar unveränderbare Praxis der Büro-Arbeit wird aktuell infrage gestellt, wird analysiert und neu bewertet. Generell auf Veränderungen bezogen bedeutet das: Direkt nach dem Wegfall des Gewohnten gibt es eine (manchmal sehr kurze) Phase, in der erprobt, argumentiert, zugehört und nachvollziehbar abgewogen wird. Von Mitarbeitenden (die Unsicherheit aushalten können) werden diese Phasen oft als bereichernd und konstruktiv erlebt. Wissen, Erfahrung und die Fähigkeit, Neues auszuprobieren zählen mehr als die hierarchische Stufe und das Argument „Das geht nicht!“.

In der Organisationsentwicklung wird diese Phase als unfreeze bezeichnet. Um von der fest gefügten bisherigen Struktur zu einer neuen zu kommen, muss die Organisation eingeübte Kommunikationsmuster verlassen. In diesem Zeitraum kann man noch nicht mit Gewissheit sagen, wohin die Reise gehen wird. In dem Optionen wegfallen oder ausgeschlossen werden, bildet sich nach und nach eine neue oder manchmal auch wieder die alte Struktur.

Schaue ich optimistisch auf die aktuellen Umbrüche, hoffe ich, dass einige Menschen und Organisationen sich in Zukunft weniger sorgenvoll und vielleicht sogar selbst gewählt und selbstbewusst in unfreeze-Situationen begeben. Dazu kann beitragen, wenn Menschen und Organisationen sich bewusst Zeit nehmen, um sich daran zu erinnern, was sie in der unsicheren Phase gewonnen haben:

Was haben wir Neues ausprobiert und gelernt?

Wie ist es uns gelungen, mit Unsicherheit umzugehen?

Wie haben wir es geschafft, sehr schnell bisher Unmögliches zu erreichen?

Vielleicht entstehen daraus Geschichten, an die Sie sich erinnern können und die Sie dann nutzen können und Ihnen helfen, aus unangenehmen und unsicheren Situation das Beste zu machen.

Andreas Rauchfuß

Dezember 2020