Selbstüberschätzung heilen

Diskussionen leben davon, dass unterschiedliche Positionen ausgetauscht werden. Ist man sich einig, diskutiert man nicht. Bei einer Stammtischdiskussion, einer Bierzeltrede oder am großen Familientisch werden Meinungen zugespitzt dargestellt und viele Menschen empfinden das als bereichernd. „Unmöglich, wie Merkel xy macht!“ oder „mein Chef hat keine Ahnung von Akquise!“ sind Äußerungen, über die man sich kurz aufregen kann und die normalerweise den Stammtisch-, Bier- und Familienfrieden nicht stören.

Im beruflichen, offiziellen Kontext können extreme Bewertungen und Meinungen den Betrieb aufhalten oder stören. Sie emotionalisieren Debatten und verringern die Chance, dass sich die Diskutierenden wirklich zuhören. Meinungsäußerungen wie „die in der Produktion denken nie daran, dass wir rechtzeitig die Produktdetails für die Werbekampagne erhalten!“ oder „die in der Verwaltung haben keine Ahnung was hier abläuft, ständig benötigen Sie nutzlose Dokumentationen!“ kosten in einer Teamsitzung Zeit und Nerven.

Stressende Durchblicker

Sebastian Herrmann berichtet in der Süddeutschen Zeitung im Artikel „Die Illusion vom großen Durchblick“ über verschiedene Untersuchungen zu den Themen Selbstüberschätzung und Extrem-Bewertungen. Die Untersuchungen setzen sich damit auseinander, wie überzeugt Menschen von ihren eigenen Bewertungen und Einschätzungen sind und wie darauf Einfluss genommen werden kann. Als typische Situationen für Fehleinschätzungen und Selbstüberschätzung werden genannt:

  • Ich bin fest überzeugt, meine Ziele zu erreichen, obwohl die Erfahrung dagegen spricht: „Ab morgen nehme ich ab“, „das nächste Konzept wird ohne Nachtarbeit fertig gestellt“.
  • „Ich kenne meinen Partner, meine Mitbewohnerin sehr gut!“ Untersuchungen ergeben, dass die Interessen nahestehender Mitmenschen oft falsch eingeschätzt werden.
  • In Untersuchungen haben die Studenten ihre Leistungen besonders stark eingeschätzt, die in den Tests besonders schlecht abschnitten.

Sozialwissenschaftlicher um Philip Fernbach von der Universität Colorado zeigen auf, dass Einschätzungen und Meinungen differenzierter und weniger extrem ausfallen, wenn vor einer Bewertung eine Erklärung erforderlich ist. Bittet man also beispielsweise zunächst um eine Beschreibung des Aufbaus und der Funktionsweise des Gesundheitssystems in Deutschland, fällt die Antwort auf die Frage „Wie bewerten Sie das Gesundheitssystems?“ weniger extrem aus.

Erklären statt begründen

Die zitierte Studie fördert noch einen interessanten Unterschied zu Tage. Sollten die Probanden ihre Meinung nur begründen, ändert sich ihrer Einschätzung nicht. Sollten Sie hingegen einen komplexen Sachverhalt erklären, fielen ihre Urteile und Meinungen im Anschluss weniger extrem aus. Erklärungen sind komplizierter und anstrengender als Meinungen, die diffus sein können und sich oft auf Gefühle stützen. „Und alles, was sich mühsam oder kompliziert anfühlt, reduziert die Illusion von Wahrheit.“

Auf den betrieblichen Kontext bezogen kann das für Sie bedeuten, dass Sie um Erklärungen von Zusammenhängen bitten, wenn Sie das nächste Mal von „selbstüberzeugten Durchblickern“ genervt sind: „Um es selbst besser zu verstehen: bitte erklär‘ mir doch, wie die in der Produktion die Produktdetails erstellen und was für sie dabei wichtig ist!“. Einige Kolleg(inn)en werden Sie dann ggf. als nervende Spaßbremse einschätzen, andere werden dankbar sein und sich in Zukunft vielleicht daran beteiligen, (zu) einfache Wahrheiten zu hinterfragen.

Quelle:  http://www.sueddeutsche.de/wissen/selbsueberschaetzung-die-illusion-vom-grossen-durchblick-1.1757406